Dagmar aus Finnentrop

Dies ist Dagmars Geschichte.

Dagmar ist 1975 im Sauerland geboren und aufgewachsen. Nach der Schule verbrachte sie mehrere Jahre in Kolumbien, studierte dort und gründete eine Familie. Als ihr Vater schwer erkrankte, kam sie mit ihrem Mann und zwei kleinen Töchtern zurück in den Kreis Olpe.  

Ihr Lehramtsstudium wurde in Deutschland nicht anerkannt. Sie arbeitete zuerst mit Menschen mit Behinderung, dann im Jugendzentrum und schließlich in der Schule als Lehrerin. Immer wieder bildete sie sich mit der Unterstützung ihres Mannes fort und hat nun in der Integrationsarbeit ihren Platz gefunden. Sie ist Netzwerkerin, sucht immer die Potenziale in ihren Mitmenschen und tanzt und singt für ihr Leben gern. 

La Mona y el Flaco 

Sein fester Händedruck bei unserer ersten Begegnung hat mich direkt beeindruckt. Er gab mir das Gefühl von einem Mann, der mit beiden Beinen fest im Leben steht, der viel erlebt hat und genau weiß, was er will. Diesen Händedruck vermisse ich bis heute. 

Loosing my religion (R.E.M.) 

Ich war 19, als ich mit einem Austauschprogramm für ein Jahr nach Kolumbien ging.  Ich war auf der Suche, irgendwie war mir meine Welt zu klein. Viele Urlaubsreisen gab es in meiner Familie nicht. Ich bin in einer Bäckerei aufgewachsen und es fiel meinen Eltern nicht leicht, sich frei zu nehmen und regelmäßige Ferien mit den Kindern zu machen. Also machte ich jeden Austausch mit, den die Schule anbot. Frankreich, England, Israel… Das war genau mein Ding und die Aufenthalte in den verschiedenen Gastfamilien prägten mich. Meine Familie unterstützte mich immer, vielleicht waren sie auch einfach froh, dass sie ihre rastlose Tochter mal „vor den Füßen weg“ hatten.  

Colombia… oh jubilo inmortal 

Nach der Schule war ich bereit für eine größere Herausforderung, also machte ich mich auf den Weg nach Südamerika. Im Sauerland kam ich überhaupt nicht mehr zurecht, ich war so froh endlich für eine längere Zeit ´rauszukommen. Zuerst lebte ich in einer Familie in Bogota, lernte Spanisch und das Leben in der Großstadt mit neuen Freunden. Verrückt, die Stadt hat rund 8 Millionen Einwohner und ist ein echtes Molloch, in dem man nicht alleine unterwegs sein sollte. Aber ich liebte es, jeden Tag. Heimweh gab es für mich nicht.  

Tagsüber waren wir mit den anderen Exchangees unterwegs und bei einem Praktikum in einer NGO, dort übersetzte ich Briefe von Kindern aus den Projekten an ihre Paten, die ihnen aus aller Welt monatlich eine finanzielle Unterstützung zukommen ließen. Abends kamen die Jungs aus der Nachbarschaft vorbei und wir zogen um die Häuser. Wir liefen rum, erzählten Blödsinn und tranken mal irgendwo eine Cola, wenn einer ein paar Pesos übrig hatte. Ab und zu gab es eine Garagenparty mit Chips und Limo, wo ich eine weitere sehr wichtige Kompetenz neben der Sprache erwarb. Salsa tanzen! Zu „Nada sin ti“ von Jerry Rivera lernte ich die ersten Schritte mit Beto, einem der Jungs aus dem Barrio, meiner direkten Nachbarschaft. Die Auswahl an Tanzpartnern war nicht sehr groß, denn die meisten der Jungs reichten mir nur bis zur Schulter. Zuerst kamen mir die Schritte etwas anders vor, als das, was ich in Deutschland, eins-zwei-tep, in der Tanzschule gelernt hatte. Aber mit der Zeit klappte es immer besser und wir hatten einen Heidenspaß. 

Dagmar, Finnentrop, 2023. Fotografiert von Dirk Vogel.

No me acostumbro (ReyRuiz) 

Nach einigen Wochen konnte ich in einem Projekt auf dem Land in San Rafael im Departamento Antioquia neue Erfahrungen machen. In einem schäbigen Überlandbus verließ ich Bogotá und brauchte gut 20 Stunden, um in Medellin anzukommen. Auf dem Weg war eine Brücke von Rebellen gesprengt worden und die Weiterfahrt verzögerte sich ewig. Das hört sich vielleicht schlimm an, war aber an der Tagesordnung und meine Mitreisenden zeigten sich eher genervt als verängstigt.  Am Busbahnhof wartete Doris, die Chefin der Corporacion El niño alegre geduldig und nahm mich mit ins Dorf. Wir waren uns vorher noch nie begegnet. Nochmal 4 Stunden tief in die Schluchten der Anden hinein. Je mehr sich der Minibus in die Berge schraubte, desto stärker schlug mein Herz. Das Transportmittel war für Einheimische konzipiert, meine Knie klemmten unter meinem Kinn und die Blicke der anderen waren eher neugierig als mitleidig. In San Rafael angekommen, fühlte ich mich direkt wohl, dieses Leben fernab der Heimat war mein Traum. Das Dorf, die Menschen… darüber müsste ich ein eigenes Kapitel schreiben. Dort war ich noch weiter weg von allem, was mir bekannt war. Internationalen Tourismus gab es damals noch nicht, so war ich schnell bekannt und jeder wusste, wer ich war. Ein kleines, intensives Leben und die Erfahrung, die die Auswirkungen der Krieg in diesem Land hat. Ich machte Sport und Quatsch mit den Kindern, deren Väter irgendwo in den Bergen verschwunden waren. Abends saßen wir mit den schnell gefundenen Freunden an der Ecke der „Ponderosa“ und hörten „Oye mi amor“ von Maná und Salsa romantica erweiterte mein musikalisches Portfolio. In Kolumbien ist alles tanzbar, die Menschen erfahren so viel Armut und Leid und doch ist kein Anlass zu gering, um zu feiern. 

Mein Austauschjahr war endlich und ich wollte noch das ganze Land kennenlernen, also musste ich zurück nach Bogotá. Es war ein herzzerreißender Abschied von meinen Leuten und den Kindern.  

Vasos vacios (Los fabulosos cadillacs mit Celia Cruz)  

Als ich in das Office der NGO in Bogotá zurückkam, waren alle in heller Aufregung. Es herrschte reges Treiben auf den Gängen und in den Büros, es waren so viele Leute wie nie vor Ort. Tja, und da war auch dieser Mann, der mir lässig auf der Treppe entgegenkam, mich sehr intensiv ansah und sich mir mit einem Handschlag und knappen Worten im Vorbeigehen vorstellte. Da war eine unglaubliche Energie, die von ihm ausging.  

Am nächsten Tag war die große Weihnachtsfeier mit allen Mitarbeitern auf einer Hacienda außerhalb der City, viele waren üblicherweise in anderen Departamentos des Landes unterwegs und extra für diese große Versammlung angereist. Es wurde viel gegessen, erzählt und Geschenke an die Kinder verteilt. Ricardo, der Mann mit dem Handschlag, und ich kamen irgendwann ins Gespräch und redeten und redeten. Er lachte über mein Spanisch und den typischen Akzent, den ich mir in San Rafael angeeignet hatte. Ave Maria pues hombe… Wir tauschten uns lange darüber aus, wie wir leben wollten. In unseren Vorstellungen entstand ein Haus mit Platz für Freunde und Bekannte, die auf ihren Reisen vorbeikommen und bei uns zur Ruhe kommen und eine schöne Zeit haben sollten. An den Wänden wollten wir Souvenirs aus der ganzen Welt aufhängen. Da waren wir uns irgendwie sofort einig.  

„El dia de mi suerte“ (Hector Lavoe) 

Am nächsten Tag rief er mich an und lud mich zum Tanzen ein. Mitten in der Stadt ging es ins Son Salomé, durch einen kaum sichtbaren Eingang und eine enge Treppe hinauf. Schon standen wir in einem Raum, nicht größer als ein Wohnzimmer mit ohrenbetäubender Salsamusik, wie ich sie noch nicht gehört hatte. Bobby Cruz und Richie Ray beeindruckten mich bis ins Mark mit „Sonido Bestial“. Das, was hier gespielt wurde, war eine ganze Ecke härter, heftiger, schneller. An einem winzigen Tisch waren noch zwei Plätze für uns frei. Chepe, der Besitzer der Bar meinte, er müsse erst eine Kuh melken, als ich nach einem Getränk ohne Alkohol fragte. Hier trank man Rum und Zuckerrohrschnaps. Ich bekam eine Flasche Wasser. Coca-Cola – das schwarze Wasser des Imperialismus- wurde hier aus Prinzip nicht serviert. Es war so laut, dass jede Unterhaltung fast unmöglich war. Aber dazu hatte Ricardo mich auch nicht eingeladen. Er forderte mich zum Tanzen auf. Gut, dass ich bei den Garagenpartys die Grundschritte gelernt hatte, ich konnte einigermaßen mithalten und bewährte mich unter den Blicken der anderen Paare und in den Armen des Mannes, der der Vater meiner Kinder werden sollte.  

Contaminame (Ana Belen, Victor Manuel) 

Viele Jahre später haben wir dieses Haus für unsere Familie und Freunde geschaffen. Gemeinsam sind wir in dieser Zeit viele Wege gegangen. Manchmal nebeneinander, manchmal mit etwas Abstand und manchmal ging auch der eine vor und der andere folgte. Wir haben viele Kilometer zurückgelegt, zwischen zwei Kontinenten gelebt, wundervolle Töchter auf die Welt gebracht und großartige Menschen auf der ganzen Welt mit uns freundschaftlich verbunden.  

Ich bin mir unsicher, ob ich davon berichten soll, wie freundlich ich in Kolumbien immer von den Menschen aufgenommen wurde und mit wie viel Neugier sie mich nach meinem Land befragten? Mit wie viel Herz und Cariño man dort mit mir und meinen Kindern umgegangen ist? Einmal war ich mit Ricardo in den Anden in einer kleinen Siedlung unterwegs verschiedene Projekte, bei denen Campesinos gestärkt wurden, damit sie ihre Produkte besser vermarkten konnten Sie leben in so ärmlichen Verhältnissen, dass es kaum für die Schuluniform der Kinder reicht. Er hatte eine längere Reunion und ich schlenderte ein bisschen durch die Gegend. Es waren im Grunde nur einige verstreute Häuschen zwischen Kaffee und Obstplantagen. Eine Señora hatte mich aus ihrem Fenster erspäht und rief mich zu sich. Sie freute sich, fragte mich aus und bot mir eine Frucht an. Es war eine Tomate de arbol, eine Baumtomate, ich hatte keine Ahnung und biss herzhaft hinein und spuckte sie sofort wieder aus. Die Frucht schmeckte so bitter und fies, dass ich sie nicht im Mund behalten konnte. Die Frau lachte, ich verstand sie nicht. Aus diesen Früchten macht man einen tollen Saft, ich sollte sie mitnehmen und zu Hause mit Zucker zubereiten. In Kolumbien bereitet man als Getränk zum Mittagessen immer Säfte aus tropischen Früchten, zum Beispiel Maracuja, Mango oder eben Baumtomate zu. Wir haben noch länger gesprochen, sie wollte wissen, woher ich komme und wie es da ist. Als ich ihr einfaches Häuschen verließ, hatte ich einen Sack Orangen und Baumtomaten dabei. Sie gab mir großzügig, von dem wenigen was sie hatte und ich konnte nicht nein sagen. Dazu fällt mir „Ojala que llueva cafe“ von Juan Luis Guerra und „Un monton de estrellas“ von Polo Montañez ein.  

Soll ich auch erzählen, mit wie viel Argwohn mein Mann in Deutschland in Empfang genommen wurde? Bei der Einreise mit einem kolumbianischen Pass, von der Kirche ohne katholischen Stempel, beim Standesamt? Ich bin mir einfach nicht sicher, geht es darum? Macht es einen Unterschied? 

Ich versuche es mal mit der Geschichte beim Standesamt, die finde ich besonders schön und ich wünsche mir immer noch, dass ich damals anders reagiert hätte.  

Ich musste einige Unterlagen aus dem Rathaus meiner Gemeinde im Sauerland haben, weil wir in Kolumbien heiraten wollten. Der Standesbeamte fragte mich, wofür ich die Dokumente denn brauchte. Als ich ihm von meinen Plänen berichtete, fragte er mich mehrmals, ob ich mir denn ganz sicher sei. Ob ich diesen Ausländer wirklich heiraten wolle. Das ginge doch nie gut!  

Heute würde ich sagen, dass ist institutioneller Rassismus, aber eigentlich war es einfach nur Dummheit.  

Años (Pablo Milanés, Mercedes Sosa)  

Nach mehr als 20 Jahren gemeinsamen Weges kam der Krebs, dieses Arschloch. Er kam in unser Haus und schenkte uns 2 schöne Jahre und nahm mir die Liebe meines Lebens. 

Ricardo bekam seine Diagnose im Sommer, es war ihm schon länger nicht gut gegangen, aber der faule Hausarzt sah erst nach Monaten genauer hin. Da war der Tumor schon riesig. Der schöne Arzt im Krankenhaus gab ihn in dem Moment auf, als er die Bilder von seinem Magen sah. Wir haben gekämpft, wir sind durch die Hölle und zurück, unvorstellbar, aber doch irgendwie geschafft. Nie gab es für uns überhaupt die Option, dass diese Krankheit sein Leben beenden sollte. Ja, wir waren naiv und das war gut so. Wir haben so viel Zeit miteinander verbracht, die unzähligen Selfies aus dieser Zeit sind Zeugen einer schönen Zeit. 

Im nächsten Sommer -Ricardo hatte durch eine komplette Magenentfernung und viele Behandlungen und Medikamente doch noch eine Chance in Bayern bekommen und war auf dem Weg der Besserung- bekam ich die Diagnose. Brustkrebs. Die linke Seite. Ein großer, schnell wachsender Tumor. Die Esoteriker unter uns haben dafür eine Erklärung. Mir ist es eigentlich egal.  

Und wieder ging die Prozedur los. Wir kannten das ja, ich dachte: “Wenn er das schafft, dann schaffe ich das auch. Nach dem, was er mit dem Magen durchgemacht hatte, musste der Brustkrebs ein Klacks sein.“ War es auch. Die Chemos, OPs und Bestrahlungen waren nicht schön aber auszuhalten, denn neben mir stand immer mein Mann. Ausgemergelt und am Rande seiner Kräfte, aber er war da. Immer. 

Als ich im letzten Sommer zur Reha fuhr ging es ihm noch ganz gut. Ich stieg früh morgens in den Zug ein und ging durch die leeren Wagons. Er ging parallel zu mir über den Bahnsteig, wir gucken uns bei jedem Schritt durch die Fenster an und wunderten uns, dass alle Sitze leer waren. Plötzlich fuchtelte er wild mit den Armen, der vordere Teil des Zuges fuhr los, aber der Wagon, in dem ich stand war abgehangen. Also hatten wir – obwohl wir für uns sehr untypisch pünktlich am Bahnhof waren – nun doch den Zug verpasst. No te preocupes, mi amor. Wir setzten uns ins Auto und er fuhr mich im rasanten Fluchtwagenmodus nach Siegen, eine Mission ganz nach einem Geschmack. Dort erreichte ich den Anschlusszug und schaffte es so, wie geplant, zur Anschlussheilbehandlung. Ich war drei Wochen dort, als unsere Tochter am Telefon sagte, Papa geht es nicht so gut. Ich bekam Post von ihm, er versicherte mir, dass er sich auf die nächsten Jahre mit mir und allem, was noch vor uns liegt, freue.  

Als er mich im Auto in Scheidegg abholte, war er über 600km durchgefahren und konnte nicht mehr aus dem Auto steigen. Wir verbrachten noch ein paar Tage zusammen und fuhren dann nach Hause. Dort kam die zweite Diagnose, der Krebs war zurück und überall in seinem Körper verstreut.   

El breve espacio en que no estás (Pablo Milanés) 

Es dauerte keine zwei Monate. Ricardos Schwester und Bruder kamen aus NY, um ihrem kleinen Bruder beizustehen. Sein erwachsener Sohn und dessen Mutter kamen aus Trondheim. Das Haus war voll, es war schön. Ich habe immer leise „no hace falta nada“ von Victor Manuelle für ihn gesungen. Wir haben ihn begleitet, bis zum Schluss, als er nichts mehr entgegenzusetzen hatte. 

 Es ging so schnell, der Sommer war so heiß. Heute denke ich, es war sein letztes Geschenk an mich, schnell zu gehen, als es kein Zurück mehr gab. 

Ricardos Asche wurde bei einer kleinen Beerdigung auf dem Dorffriedhof beigesetzt. Wir spielten Carlos Vives „La tierra del olvido“ und „El cantante“ von Hector Lavoe aus einem Lautsprecher zum Abschied. Zwei Jahre später konnten meine Töchter und ich endlich zu einer Reise nach Kolumbien aufbrechen. Wir haben dort viele unserer Freunde besucht, Geschichten ausgetauscht und mit Rum auf diesen außergewöhnlichen Mann, Freund, Vater und Geliebten angestoßen. Dort haben wir uns an seinem liebsten Stand im Parque Tayrona noch einmal von ihm verabschiedet.  

„En el mar“ von der Sonora Matancera klang in meinem Herzen. 

25 Jahre zusammen, durch dick und dünn, wie man so schön sagt. Bis der Tod uns scheidet! Wer hätte das gedacht!? Der Beamte am Standesamt wohl nicht.   

Einblicke in Dagmars Leben

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