Pilar wurde in Madrid geboren. Sie besuchte dort den deutschen Kindergarten und die deutsche Schule. Danach studierte sie Germanistik und kam anschließend mit einem Stipendium nach Deutschland. Nach einem Jahr ließ sie sich im Sauerland nieder. Sie unterrichtete 30 Jahre Spanisch als Muttersprache in der Schule. Hier lernte sie mehr als ihre Schülerschaft. Mit ihrer Hilfe und der Hilfe einer Kollegin hat sie einen Lese-Schreiblehrgang für spanischsprachige Kinder geschrieben, ihr geliebtes „Cocodrilo“.
Ihre Familie hat Flucht und Migration erfahren, wodurch sie sich heute gerne für Integration und Mehrsprachigkeit im Kreis Olpe einsetzt. Ihr Leben ist von Musik geprägt.

Zuhause
In Spanien bin ich die Deutsche, in Deutschland bin ich die Spanierin. Die Leute geben somit einem das Gefühl, man gehöre nicht dazu, egal wo man ist. Ist es denn so wichtig, von wo man kommt oder wo man lebt?
Tatsächlich ist es so, dass ich zu beiden gehöre. Eine Freundin in Spanien fragte mich nach drei Jahren: „Und? bleibst du in Deutschland? Gefällt es dir so viel besser als hier?“ Auf so eine Frage konnte ich nicht antworten. Ich glaube nur aus Trotz erwiderte ich: „Ja, tatsächlich ist es besser in Deutschland.“ Zu Hause erzählte ich das meiner Mutter und sie sagte: „Was ist das für eine blöde Frage! Wen hast du lieber, Papa oder Mama?“ Ich war total erleichtert, fühlte mich so verstanden. Nur Menschen, die zwischen zwei Ländern leben, kennen dieses Gefühl. Und dieses Verständnis brachten mir meine Mutter und meine Großmutter entgegen, meine beiden Stützen, meine Pilares.


Pilar, Attendorn, 2023. Fotografiert von Dirk Vogel.
DIE DREI SÄULEN
Pilar ist ein ganz geläufiger spanischer Name. Die Bedeutung ist „Pfeiler“ oder „Säule“. In meiner Familie haben drei Generationen Frauen diesen Namen getragen: meine Oma, meine Mutter und ich. Aber ist der Name das Einzige was diese drei Frauen gemeinsam haben? Ist das Leben der drei so verlaufen wie sie es sich vorgestellt hatten? Meine Oma zum Beispiel wollte nie einen Musiker oder einen „Ausländer“ heiraten. Meine Mutter hingegen hatte sich ein Leben neben einem Schweizer in den Alpen ausgemalt. Ich, nachdem ich nicht so gute Erfahrungen in der deutschen Schule in Madrid gemacht hatte, wollte nie wieder was mit Deutsch oder Deutschland zu tun haben.
Was ist aus diesen Vorsätzen geworden?
Tja, das Schicksal lenkte uns in ganz andere Bahnen als wir uns gedacht hatten.
HERAUSFORDERUNG DEUTSCH
Eigentlich wollte ich Biologie studieren, aber kurz davor fragte ich mich: Wofür hast du dich jahrelang in dieser blöden Deutschen Schule gequält und diese schwierige Sprache gelernt? Mache doch etwas daraus! So beschloss ich, Germanistik zu studieren und lernte die Faszination der deutschen Sprache kennen. Während meines Studiums habe ich verstanden, warum man Deutschland als Land der Denker bezeichnet. Ohne zu denken geht deutsche Sprache gar nicht. Ich war total fasziniert, als ich einmal einen Absatz von Peter Handke ins Spanische übersetzen musste. Der Absatz war nur ein Satz, der sich über anderthalb Seiten erstreckte. Um die Aussage zu verstehen musste ich das dreimal lesen! Wahnsinn!
Mein Problem war, ich kannte Deutsch nur aus der Literatur. Zuhause sprachen meine Brüder und ich nie Deutsch mit meiner Mutter, weil mein Vater nichts verstand. Ich kannte also die Umgangssprache nicht. Nach Abschluss meines Studiums bekam ich ein Stipendium nach Süddeutschland. Ich hatte mir fest vorgenommen, in diesem einen Jahr die gesprochene Sprache zu lernen.
In Böblingen hatte ich ein Zimmer mit Familienanschluss. Erster Schock: mein ganzes Leben hatte ich Deutsch gelernt und ich verstand die Leute nicht: sie schwäbelten wie die Weltmeister und ich verstand kein Wort! Mit Bayerisch kam ich einigermaßen zurecht durch meine Mutter, aber dieses Schwäbisch… das war eine ganz andere Sprachenwelt!
Mittlerweile bin ich in Attendorn sprachlich zu Hause, gehe durch eine Schlippe nach’m Heidi, ich, als Buiterling. Ich könnte mich beömmeln!!
DIE LOCKE
Eines Abends lag ich in meinem Bett mit einem Buch von Thomas Bernhard in der Hand: ‘Das Kind.‘ Es war ein autobiographischer Roman und erzählte von seiner Kindheit in Bayern. Jetzt las ich eine Passage von der Zeit, die er in Traunstein verbracht hatte:
„Ich ging zu einem Geiger, der mit einer Spanierin verheiratet war, die genauso ausschaute, wie ich mir eine Spanierin vorstellte, sie war schwarzhaarig und hatte eine raffinierte Locke in der Stirn. Angeblich war sie mal Konzertsängerin gewesen.“
Aufgeregt ließ ich das Buch neben mir fallen. Aha, so stellte sich also Thomas Bernhard eine Spanierin vor, schwarzhaarig und mit einer Locke in der Stirn. Was er aber nicht wusste ist, dass diese Spanierin doch gar nicht so typisch war. Ihr Vater war ein Filipino aus Macabebe (Pampanga) gewesen.
Außerdem war diese Frau nicht nur „angeblich“, sondern tatsächlich Sopranistin gewesen und hatte in Madrid als Pianistin ihre Brötchen verdient. In einem Café spielte sie in einem Frauentrio. Dieses nahm einen deutschen Cellisten auf, denn die Frau, die bis dahin Cello mit ihnen gespielt hatte, war ausgefallen. Der Mann war als blinder Passagier in einem Schiff nach Nordspanien gekommen. Dort traf er ein paar Musiker, mit denen er in Cafés auftreten konnte. So kam er nach Madrid, er erkrankte aber an einer Pleuritis und daraufhin verließen ihn seine „Freunde“. Die drei Frauen hatten Mitleid mit ihm und nahmen sich seiner an. Kurz später heiratete er die Pianistin und sie bekamen eine Tochter.
Als der spanische Bürgerkrieg ausbrach fuhren sie nach Bayern, die Heimat des Mannes. Kurze Zeit später brach der Zweite Weltkrieg aus.
In dieser schweren Zeit schlug sich das Ehepaar mit kleinen Konzerten in kleiner Besetzung und mit Musikunterricht durch. Der Mann – ein Allroundtalent, würde man heute sagen – spielte Cello, aber er gab auch Unterricht in Gitarre, Akkordeon, Zither und eben auch Geige. In dieser Zeit hat Thomas Bernhard bei ihm wohl Geigenunterricht genommen.
Und was war mit der Locke?
Bei ihren Auftritten hatten sie im Repertoire spanische Folklore, und da gehörte natürlich eine Locke auf der Stirn dazu.
Warum ich das alles weiß? Weil dieses Ehepaar meine Großeltern waren. Und diese Frau mit der Locke war mein erster Pfeiler, die erste Pilar.
MEINE STÜTZE
Zu der Zeit war meine Mutter auch da, Thomas Bernhard hat sie wohl übersehen… Oder sie war in Salzburg, selber zum Geigenunterricht im Mozarteum.
Zurück in Spanien, kamen ihr Alle und Alles seltsam vor. Sie war zwanzig, war aber durch ihre Erlebnisse in Deutschland während des Krieges viel reifer. Vor allem die Männer fand sie sehr oberflächlich und doof. Ganz ungewöhnlich war für sie das Küsschen links, Küsschen rechts‘. „Warum soll ich diesen Mann küssen? Ich kenne ihn doch gar nicht!“ Und Schwupp, ging sie einen Schritt zurück und streckte ihm ihre Hand entgegen.
Sie spielte im Madrider Symphonieorchester, in dem insgesamt nur fünf Frauen waren. Ihre männlichen Kollegen kamen ihr vor wie Pubertierende, sie lachten immerzu über ihre eigenen Witze. Sie konnte nichts damit anfangen. Sie wollte sowieso nichts von Männern wissen, sie war mit ihrer Geige verheiratet. Mehr als ihre Musik brauchte sie nicht. Später sattelte sie um auf Bratsche.
Aber wie das Leben so spielt, lernte sie einen seriösen Mann kennen, einen Fagottisten, einiges älter als sie, der aber ihrer inneren Reife entsprach (doch kein Schweizer!).
Sie spielten später zusammen im Nationalorchester, wo meine Mutter jahrelang zwischen den Bratschisten ziemlich weit hinten saß. Sie wusste, dass sie durch ihr Können ganz vorne sitzen konnte, aber als Frau gab man ihr keine Chance, man sagte ihr, eine Frau könnte sich in so einer Position kein Respekt verschaffen… !!
Viel später, als der Chefdirigent wechselte, bekam sie die Gelegenheit sich zu bewerben, und sie kriegte ihren wohlverdienten Platz als Solistin sofort. Alle ihre Kollegen sagten später, sie wäre eine Frau gewesen, die immer jeden respektierte, sich aber auch wohl respektieren ließ. Ein Super-Vorbild!
Sie hat mir immer vermittelt, dass ich in dieser Männerwelt, in der ich aufgewachsen bin, nie vergessen soll wie und was ich bin und dass ich niemals von jemanden abhängig werde, und ganz besonders nicht von einem Mann. Sie selber hat nie aufgehört zu arbeiten.
ERSTE EINDRÜCKE
Es war 9:00 Uhr abends. Nach anderthalb Tagen war ich fast in Finnentrop angekommen. Ich war total aufgeregt. Es war immerhin die schwerste Entscheidung meines Lebens gewesen. Eigentlich war ich nur für ein Jahr nach Deutschland gekommen und danach sollte es in Madrid weitergehen. Nach dem Erhalt der Zusage vom Kreis Olpe, dass ich die Stelle als Lehrerin für den Muttersprachlichen Unterricht antreten konnte, fasste ich mir ein Herz und entschied mich für ein neues, unbekanntes Leben. Vor anderthalb Tagen hatte ich mich von meiner Familie und meinen Freunden in Madrid verabschiedet, bis wann wusste ich selber nicht und ich wusste nicht, was mich erwartet. Klar war nur, ich war nicht alleine.
Ich kam an. Bürgersteige hochgeklappt. Mein Freund wartete auf mich am Bahnhof. Wir fuhren mit dem Taxi zum Campingplatz. Wir hatten ja noch keine Wohnung gefunden und wollten uns von da aus eine suchen.
Wir kamen am Campingplatz an und gingen ein paar Schritte. Dann sagte mein Freund: „warte kurz hier, ich muss noch was vorbereiten.“ Ich wusste gar nicht was das sollte. Und nun stand ich da, in völliger Dunkelheit und wartete. So etwas kannte ich gar nicht, in Madrid war immer Licht. Es roch gut, die Luft war frisch… plötzlich hörte ich was hinter mir. Ich drehte mich um, sah aber nichts. Und wieder hörte ich was. „Da kommt doch jemand?“ Verfolgungswahn? In Madrid guckte ich immer nach hinten, es könnte mich doch einer überfallen. Ich wurde ganz unruhig, weil ich immer noch ein Geräusch hörte. Und mein Freund kam nicht.
Immer wenn ich mich bewegte, hörte ich etwas. Wie Schritte hörte es sich nicht an. Es war auch kein Rascheln… eher ein Schwappen. Das kam aus meiner Tasche! Und dann habe ich es erkannt. Es war meine Parfümflasche! Dass Parfüm ein Geräusch erzeugen kann war für mich ganz unbekannt. Diese Stille war mir ganz fremd.
Wir suchten einige Wochen eine Wohnung für uns beide, es war ziemlich aussichtslos. Als ich das meinem Sachbearbeiter erzählte, meinte er mit einem Schmunzeln: „Gute Frau, was wollen sie? Ausländerin, nicht verheiratet, Freund mit langen Haaren… können Sie vergessen, wir sind hier im Sauerland.“
Wo war ich denn bloß gelandet?
LIEBE ZUR MUSIK
Viele Sachen hat mir meine Mutter weitergegeben: Unabhängigkeit, Weltoffenheit, Toleranz… und die Liebe zur Musik. Als Trotzkopf bin ich die einzige in der Familie, die nicht eine musikalische Karriere eingeschlagen hat. Komischerweise waren meine ersten Begegnungen in Deutschland (in der Freizeit) immer mit Musik verbunden. Die einen spielten selber, andere veranstalteten Konzerte.
In meinem ersten Jahr in Attendorn lebte ich in einer weit abgelegenen Wohngemeinschaft, richtig ländlich (wir fanden ja gar keine Wohnung!). Einmal wollte ich zur Arbeit und mein Auto streikte. Also bin ich zur nächsten Bushaltestelle gelaufen. Als der Bus kam, rauschte er an mir vorbei. Wie konnte ich denn jetzt zur Arbeit kommen? Ich bin dann getrampt und schon das erste Auto hielt an. Es war vollgepackt mit Instrumenten. Nach einer kurzen Unterhaltung stellte es sich heraus, dass der Fahrer eine Musikschule hatte. Ich sagte ihm, dass ich für Saxophon schwärmte. Er erzählte mir, hinten lägen vier Saxophone. Am nächsten Tag fing ich mit Saxophonunterricht an. Und so rutschte ich in etwas hinein, das ich nie vermutet hätte: ich spielte bei dem Fanfarenorchester Finnentrop und marschierte in Uniform beim Karneval. Nicht meine Welt, aber ich denke immer, man muss eigene Erfahrungen machen um zu sehen, ob das wirklich so ist wie man es sich vorgestellt hat. Später spielte ich in der Bigband der Musikschule Attendorn-Finnentrop. Das war definitiv mein Fall! Ich liebte den Swing der 40er Jahre, auch ein Erbe meiner Eltern.
Einige Jahre später, auch durch Zufall, begegnete ich bei einem Geburtstag im Jugendzentrum einer Freundin, die ich schon lange nicht mehr gesehen hatte. Sie sagte, sie würde gerade im Keller proben. Ich wusste bis dahin nicht, dass sie sang. Ich bin mit ihr dann runtergegangen, sie fing an zu singen, signalisierte mir dabei mit den Händen, ob ich oben oder unten singen wollte, und auf Anhieb sangen wir zweistimmig. Anschließend kam aus der Schlagzeugecke: „Kommst du nächste Woche?“ Daraus ist eine der schönsten Sachen entstanden, die ich hier erlebt habe.
Bis heute mache ich Musik, ob mit dem Saxophon, meiner Djembe-Trommel oder mit der Stimme, für mich ist es einfach eine Therapie und ein Glücksgefühl. Ich brauche sie wie die Luft zum Atmen. Musik ist meine Heimat.
KULTURSCHOCK?
Genau wie die Musik gehört die Zweisprachigkeit zu meinem Leben und zur Familientradition. Mit meiner Mutter konnte ich bis zum Schluss von einer Sprache zur anderen ‚switchen‘ und das war ganz angenehm.
Aus diesem Grund habe ich sehr gerne als Lehrerin gearbeitet. Meine SchülerInnen waren auch zweisprachig und Ziel meines Unterrichts war, dass sie ihre Herkunftssprache nicht verlernen. Man könnte meinen, man kriegt einen Kulturschock, wenn man von einem anderen Land kommt. Ja, das stimmt teilweise. Bei mir war es anders: es war nicht, dass ich nicht in meinem Heimatland war, sondern eher der Unterschied zwischen Stadt- und Landleben. Als ich in Attendorn ankam, kam mir alles so klein vor, so etwas kannte ich nicht. Kein Kino, kein Leben auf der Straße, keine Kulturangebote.
Aber noch ungewohnter war das Leben um meine Schülerschaft. Es waren Kinder der Gastarbeiter, die sich hier ein neues Leben aufgebaut hatten. Sie kamen aus kleinen spanischen Dörfern, aus Gegenden, die für mich bis dahin auch unbekannt waren. Auch ihre Sprache, dialektal geprägt, war für mich ganz fremd und spannend. So begegnete mir eine andere Welt. Im Laufe der Jahre habe ich durch diese Kinder so viel von meiner eigenen Sprache gelernt… Es kamen mit der Zeit auch neue SchülerInnen aus Lateinamerika dazu. Dadurch wurde die Vielfalt im Klassenzimmer noch größer und spannender. Sie haben meinen Blickwinkel erweitert. Wir hatten miteinander sehr viel Spaß.
Und eins habe ich gemeinsam mit meinen SchülerInnen: Für sie wie für mich – und auch für meine Pilares – ist die spanische Sprache der Bezug zu unserer Heimat, zu unseren Wurzeln, und wir fühlen uns in beiden Ländern zu Hause und zur gleichen Zeit fremd.
Einblicke in Pilars Leben









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